01.01.2019
Geschafft! Ich habe meine ersten Weihnachten und Silvester alleine tatsächlich überlebt. Leicht war das nicht, das könnt Ihr mir glauben. Man feiert all die Jahre seines Lebens mit Eltern, mit Mann und eigener Familie diese großen Festtage und dann, von einem Moment auf den anderen, mit 81 Jahren, schleicht der Tod in Dein Leben und zerstört die Zweisamkeit. Sicher, in meinem Alter müsste man auf den Verlust des Ehemanns vorbereitet sein. Ist man aber nicht. Der Tod betrifft irgendwie immer die anderen, nie einen selbst. Wenn es dann doch passiert, bist du überrascht, es zieht dir den Boden unter den Füßen weg und unvermutet sitzt du plötzlich alleine vor dem Christbaum und prostest dir zu Silvester selbst zu. Nein, leicht waren die letzten Tage wirklich nicht. Aber ich habe sie überlebt.
Mein Name ist Lotte Braun. Wenn ich mich in Tagträumen etwas verwegen denke, sage ich an dieser Stelle gerne: „Mein Name ist Lotte Braun. Braun wie Eva Braun, die heimliche Geliebte des Führers.“ Der hat mich als Kind mal in den Arm genommen, oben am Obersalzberg. Wir wurden hinaufgebracht, direkt vom Kindergarten weg, damit Hitler mit uns Kindern für Fotos posieren konnte. Ihn fand ich eklig, die fetten Haare, den Schnauzbart und seinen unehrlichen Kuss auf meine Stirn. Aber Eva Braun fand ich toll, da dachten noch alle sie wäre seine Haushälterin, sie fand ich toll. Ihr Haar war wundervoll, ich mochte ihr Lachen und der Guglhupf, den sie uns Kindern nach dem Fotografieren gab, war der erste und beste Guglhupf meines Lebens. Denke ich mich verwegen, sage ich also: Lotte Braun, Braun wie Eva Braun.
Aber im wahren Leben bin ich alles andere als verwegen. Darum sage ich an dieser Stelle dann doch immer wieder: „Ich bin Lotte Braun, Braun wie Beige, wie die Farbe. Sie wissen schon.“ Diese Variante meiner Vorstellung passt einfach besser zu mir. Sie gibt präzise die Wahrheit über mich und mein Leben wider.
Ich bin eine jener alten Frauen, die man im Allgemeinen als angepasst und unsichtbar beschreiben würde. Bei mir hat diese Unsichtbarkeit allerdings wenig mit dem Alter zu tun, ich war schon immer so, angepasst, farblos, eben braun wie beige. Nach einer schmerzvollen Kindheit habe ich als junge Frau Sicherheit gesucht und wohl auch deshalb einen langweiligen Mann geheiratet, einen Buchhalter, der mir ein ruhiges und sicheres Leben versprach. So ist es dann auch gekommen. 3 Kinder, Hausfrau, ein kleines Reihenhaus, alle paar Jahre Urlaub in Jesolo. Das wars. Lotte Braun halt. Braun wie beige.
Seit gestern aber frage ich mich, ob ich so weiterleiben möchte, so unsichtbar und gemächlich, so braun wie beige. Als ich, wie zu jedem Jahreswechsel, meine in Kanada lebende Tochter anrief, meinte die wieder einmal: „Mama, Du musst endlich leben.“ Diesen Satz betet sie ja schon seit Jahren wie ein Mantra herunter. Gestern aber fügte sie noch an: „Wann, wenn nicht jetzt, wo Papa tot ist?“
Seitdem überlege ich, ob ich braunbeige bleiben möchte oder ob ich mein Leben vielleicht doch etwas aufregender gestalten könnte. Damit ich in Zukunft sagen kann: „Mein Name ist Lotte Braun, Braun wie Bunt. Sie wissen schon.“
Gibt es Lotte Braun wirklich? Ja und nein. Ihr könnt Lotte Braun vielleicht nicht angreifen, trotzdem gibt es sie. Lotte Braun ist ein Textprojekt von mir, Sonja Schiff, und wird vielleicht einmal ein Buch. Lotte Braun steht für die vielen alten Frauen in unserer Gesellschaft, die nach langer Ehe ihren Mann verlieren und es schaffen müssen irgendwie weiterzuleben. Alleine.
Maria meint
Liebe Lotte Braun,
ich fühle mit dir! Der Gedanke, meinen Mann eines Tages zu verlieren, ist mein allerallerschlimmster Alptraum! Also kann ich eigentlich gar nicht mit dir fühlen. Doch – zum Glück und leider! – hatte ich immer schon eher zu viel Fantasie als zu wenig…
Und ich weiß auch gar nicht, was ich dir wünschen soll… Wie sich auf so was Schreckliches reagieren lassen könnte. Wie fast immer käme mir jetzt mehr denn je jeder Ratschlag wie ein Schlag vor…
Ich möchte dich mit Wolken umhüllen… hellblau, nicht braun… Und Wärme! Mein Gott, ohne meinen Mann wäre mir soooo kalt!
Eigentlich kann ich dir nur sagen: Ich denke an dich, Lotte Braun – die du für so viele Andre Frauen stehst. (Auch das ist kein Trost, ich weiß es wohl…)
Mit herzlichen Gruß
Maria
vera meint
Ich habe diesen Eintrag erst heute gelesen, fast ein Jahr später. Nun wo Weihnachten und Silvester wieder kurz vor der Tür steht wünsche ich Ihnen dass sie in dem vergangenen Jahr viele Kräfte sammeln konnten und schöne Erinnerungen auf die sie jetzt zurückblicken können. Wo das letzte Weihnachtsfest so ungewohnt und neuartig war und geprägt von dem Verlust ihres Mannes wünsche ich dass dieses Jahr aufgeladen ist mit einem neuen Lebensgefühl.
Die Neujahrsrituale haben mich sehr inspiriert und ich werde ein paar davon dieses Jahr auch umsetzen. Danke dafür und ein gesegnetes Fest.
Vera